Ökonomische Modelle und ökonomische Realität

Erleben wir derzeit eine fundamentale Krise der mathematischen Modellökonomie? Dies Frage beschäftigt mich schon seit Jahren, weil immer mehr junge Ökonomen aufgrund ihrer Ausbildung vorrangig mit dem Schwerpunkt mathematische Modellierung ausgebildet werden. Je ausgefeilter und komplexer diese Modelle werden, desto höher ihre Chance sich Reputation innerhalb der Ökonomenzunft zu erwerben und wie von ihnen gehofft entsprechend eine berufliche Karriere verwirklichen zu können. Die dabei als Maßstab angelegte Indikator der am meisten Anerkennung verspricht sind Veröffentlichung in möglichst hoch gerankten SSCI-Zeitschriften. SSCI steht dabei für Social Science Citation Index eines von Thomson Reuters[1] betriebenen Analyse-Tools, dass die von ihnen ausgewählten Zeitschriften und die darin publizierten wissenschaftlichen Artikel regelmäßig dazu verwendet, um die relative Reputation der jeweiligen darin publizierenden Autoren zu bestimmen. Damit wird der SSCI gleichsam zum Goldstandard der internationalen Wissenschaftsproduktion in den Sozialwissenschaften. Durch dieses Nadelöhr muss jeder Akademiker(-in) gehen, wenn er sich auf dem Arbeitsmarkt bewirbt, denn bei der Rekrutierung werden diese Publikationen vorrangig gezählt. Nun hat es sich gefügt, dass nach Ansicht der Elite, die den Zugang zu diesen Publikationen reguliert, mathematisch-ökonometrische Modelle der Maßstab für die Auswahl von Beiträgen für die SSCI-Journals durchgesetzt hat.  Ein ums andere mal stößt man auf das Diktum, rigorous mathematical and ecnometric modelling, als benchmark für die Auswahl der wissenschaftlichen Beiträge. Selbstverständlich müssen die Beiträge auf Englisch verfasst sein, der ligua franca der internationalen scientific community. Ist dieses System geeignet, um den nachhaltigen wissenschaftlichen Fortschritt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu garantieren? Zweifel sind angebracht.

Mathematische Eleganz geht vor ökonomische Relevanz

Es verwundert daher nicht, dass die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften immer mehr junge Wissenschaftler aus dem Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften attrahieren. Sie erfüllen am ehesten die rigorosen methodischen Voraussetzungen aufgrund einer umfassenden mathematischen Schulung. Dadurch findet zugleich ein Methodentransfer von der Mathematik und den Naturwissenschaften statt, der sicherstellen soll, dass die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften den hohen Standards der Naturwissenschaften genügen.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass aus der ehemals als politische Ökonomie bezeichneten Wirtschaftswissenschaften, das politische und d.h. gesellschaftspolitische Element weitgehend an den Rand gedrängt wurde. Aus der Politischen Ökonomie eines Smith, Ricardo, Marshall, etc. wurde schlichtweg Economics oder positive Ökonomie, die sich als werturteilsfrei ansieht. Zweifel an der Werturteilsfreiheit solcher rein mathematischen Modelle wurde schon immer seit der Entstehung dieses Forschungsprogramms beispielsweise von Max Weber geäußert.

Es hat sogar dazu geführt, dass ein alternatives Forschungsprogramm wieder unter dem Namen Political Economy oder Public Choice sich an den Universitäten als Spezialgebiet etablieren konnte. Es bleibt daher bis heute ein asymmetrisches Verhältnis, da die allgemeine Wirtschaftstheorie, die außerhalb dieses Bereichs publiziert und gelehrt wird, sich als werturteilsfrei ansieht und damit als wirtschaftspolitischen Fragen auf eine kleine Spezialdisziplin gewissermaßen als normativer Wissenschaft outgesourced hat.

Dies ist eine prekäre Koexistenz zwischen der reinen Ökonomie und der (un-)reinen politischen Ökonomie. Erstere reklamiert für sich allgemeine quasi-naturgesetzliche Zusammenhänge zu analysieren, letztere wendet sich dann ausschließlich politischen und wirtschaftsethischen bzw. normativen Fragen zu.

Aus der Sicht der reinen Ökonomie wird diese politische Debatte auf der Grundlage der quasi-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der positiven im Gegensatz zur normativen Ökonomie durchgeführt. Mithin stellt auf wissenschaftlichen Grundlagen gegebene wirtschaftspolitische Empfehlungen nur die Anwendung der aus der positiven Ökonomie entwickelten Modelle dar, bei denen Politikvariablen entsprechend den politischen Zielvorstellungen durchgerechnet werden. Applied science versus pure science.

Solche Szenarien liefern dann die Grundlage für die politischen Entscheidungsträger. Diese Sichtweise führte zu dem Vorschlag Lehrstühle für Wirtschaftspolitik in Deutschland ganz abzuschaffen.[2] Das politische einer Entscheidung sollte damit durch das technokratische einer Anwendung von mathematisch-ökonomischen Modellen ersetzt werden. Sag mir welche Politikziele du hast, welche Instrumente dir zur Verfügung stehen und die Ökonomen liefern dir die Antworten was unter den gegebenen Rahmenbedingungen der mathematisch-ökonomischen Modelle die optimale Antwort auf das Politikproblem darstellt.

Die zentrale Frage, die sich jedoch hier stellt ist, ob diese Arbeitsteilung sich als realitätstüchtig erwiesen hat. Sind diese Modellrechnungen ein adäquates Substitut für die ökonomische Realität? Der Schlüsselbegriff hierfür lautet Modellfehler. Unter ihm werden sämtliche Unzulänglichkeiten subsumiert, dass ein Modell nur höchst imperfekt die Realität abbilden kann.[3]  Modellfehler in den Wissenschaften – egal ob Naturwissenschaften oder Sozialwissenschaften – können sich desaströs auf den mismatch zwischen Modellergebnis und Ergebnis in der Realität auswirken. Die globale  Finanzkrise hat dieses Problem des Forschungsprogramms nachdrücklich offengelegt. Es wurde dort mit Modellierungen insbesondere bei den Finanzmärkten gearbeitet, die den Bedingungen in einer Finanzsystemkrise nicht standhielten. Nassim Taleb[4], hat diese Kritik in seinem populären Buch „Black Swan“ [5]ausführlich dargelegt. Insbesondere die mathematische Statistik basiert auf der Grundlage von Massenerscheinungen, d.h. ihre zentralen Grundlagen müssen von den Grundgedanken der zeit- und ortsunabhängigen Replizierbarkeit der Zufallsexperimente in nahezu endloser Häufigkeiten ausgehen. Der zentrale Grenzwertsatz der Statistik liefert dann eine probabilistische Entscheidungslogik mit welchem Risiko Entscheidungen getroffen werden können. In den Naturwissenschaften hat sich die Statistik hervorragend bewährt, weil diese Zeit- und Ortsunabhängigkeit unter den normalen Bedingungen der klassischen Physik sicherstellen lassen. Die Gesellschaftswissenschaften haben es da eindeutig schwieriger, da kontrollierte Experimente ja die vollständige Kontrolle aller Faktoren insbesondere der am Experiment beteiligten Versuchspersonen erfordert. Einerseits geht man von der individuellen Einzigartigkeit jedes Menschen aus, andererseits soll er aber doch ein auf wenige Faktoren reduzierter quasi-Pawlowscher Hund sein, d.h. vollständig durch äußere Rahmenbedingungen konditioniert.[6] Einerseits wird dem Individuum der Subjektcharakter als Wirtschaftssubjekt zuerkannt, andererseits soll er durch eine mittels ökonomischer Entscheidungskalkülen vollständiger Konditionierung unterliegen. Beides zusammen geht aber nicht. Hayek würde hier von einer Anmaßung von Wissen durch die Modellökonomen sprechen. Statt Entscheidungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte wird dieses klammheimlich durch ein Konditionierungsansatz einer Entscheidungslogik aufgrund äußerer Rahmenbedingungen ersetzt. Wie wenig tragfähig der letztere Ansatz insbesondere unter den außergewöhnlichen Rahmenbedingungen einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt sich jetzt eben besonders prägnant. Plötzlich werden psychologisierende mithin oftmals empirisch unmessbare Zusammenhänge dominant für das Verhalten der Wirtschaftssubjekte. Herdentrieb im Sinne der naturwissenschaftlichen Pawlowschen Theorie der Konditionierung, Irrationalität aus Sicht der normalen ökonomischen Entscheidungslogik, Ansteckungseffekte von ganzen Volkswirtschaften treten plötzlich in den Vordergrund der Betrachtung. Niemand weiß jedoch diese spezifischen neuen Variablen zuverlässig zu quantifizieren und in die doch zuvor als so naturwissenschaftlich gehärteten ökonometrisch-mathematischen Modelle zu implementieren.  Statt einer effizienten Risikobewertung macht sich immer mehr Unsicherheit im Sinne von Knight breit.[7] Damit versagt aber gerade das zuvor so gefeierte naturwissenschaftliche Modell unter den Rahmenbedingungen einer Systemkrise. Die positiven Ökonomen sind ratlos, d.h. sie lassen die politischen Entscheidungsträger ohne einen glaubwürdig wissenschaftlich fundierte Situationsanalyse vor sich hin werkeln. Man zieht sich stattdessen lieben wieder in den Elfenbeintrum der Universitäten und Grundlagenforschung der reinen Ökonomie zurück. Nicht zufällig stellt die englische Königin ihren Untertanen, die sich zuvor als Experten der wissenschaftlichen Politikberatung geriert hatten, die unangenehme Frage, warum man denn nicht die Finanzkrise hätte rechtzeitig kommen sehen?[8] Warum wurden nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um Fehlentwicklungen durch regulatorische Eingriffe zu stoppen?

Offenbar hatte sich die Ökonomenzunft der positiven Ökonomen mit ihrer Ideologie, dass das ökonomische System einem homöostatischen sich selbst-regulierenden Marktmechanismus äquivalent sei, verrechnet. Auf Grundlage dieser Kernhypothese war eine Destabilisierung des Ausmaßes wie wir sie jetzt empirisch beobachten können, ruled out by assumptions. Hier zeigt sich aber auch wie fatal ein Wissenschaftssystem ist, dass die Selektion seiner Eliten durch ein System bewerkstelligt, dass ideologiebehaftet sind, d.h. heterodoxe Forschungsansätze negativ diskriminiert und solche Mainstream konforme fördert. Dieser systematisch seit Jahrzehnten in das Wissenschaftssystem implementierte Selection Bias, hat zu einer Situation geführt, dass es einen massiven Mangel an politökonomisch ausgebildeten akademischen Ökonomen gibt. Die Politikberatung ist auf einen kleinen Kreis von Starökonomen konzentriert, die mit völlig gegensätzlichen Empfehlungen die Politiker eher verwirrt als ihnen Orientierung bietet. „Before I was confused, now I am confused at a much higher level“, lautet oftmals die Devise, die Politiker Heimlich beschleicht, wenn sie den Empfehlungen der führenden Wirtschaftswissenschaftler folgen sollen. Das Project Syndicate[9] macht dies deutlich. Es ist ein Jahrmarkt von Ideen[10] international führender Wirtschaftswissenschaftler geworden, die untereinander auch in fundamentalen Fragen uneins sind. Es zeigt sich nun, dass die Wirtschaftswissenschaft doch keine objektive naturwissenschaftliche Wissenschaft geworden ist, sondern ein Sammelsurium von Denkschulen von Neoklassikern, Keynesianern und anderen heterodoxen Forschungsrichtungen wie Schumpterians, Verhaltensökonomen oder Evolutionsökonomen, die untereiander nicht einmal über die grundlegenden Prämissen der scheinbar so homogenen Wirtschaftswissenschaften einig sind. Die einzige Gemeinsamkeit ist derzeit: We agree to disagree.

Hinzu kommt ein kaum lösbares Problem, dass die unterschiedlichen Denkansätze sich noch nichtn einmal dem Prinzip des Falsifikationensversuchs á la Popper unterziehen können. Extreme Ereignisse wie derzeit beobachtbar lassen sich mit Durchschnittsbetrachtungen mit der üblichen statischen Entscheidungslogik nicht falsifizieren.

Erwartungstreue konsistente Schätzer und Varianzen berechnet auf der Grundlage von asymptotischer Normalverteilung – basierenden auf dem zentralen Grenzwertsatz – taugen kaum als hinreichendes Beweismittel im empirisch basierten Diskurs. Hinzu kommen Fragen bezüglich fundamentaler Modellfehler, die oftmals ihre Modellbetrachtungen durch mikrofundierte Entscheidungskalküle autonomer Haushalte, d.h. unter Ausschluss von Interdependenzen zwischen Entscheidungsträgern, Missachtung grundlegender Aggregationsprobleme, etc. mathematisch deduziert worden sind.

Eine lange Liste von bereits durch Falsifikationsversuche widerlegten Grundannahmen der ökonomischen  Modellbildung sind in den abstrakten Modellwelten einfach tradiert worden und hat keinerlei Konsequenzen auf die Mainstreamökonomen gehabt. Hier war das Prinzip der Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen außerordentlich schädlich, da hierdurch Barrieren errichtet worden sind, die die Diffusion der Erkenntnisse eines Spezialgebiet wie beispielsweise der Verhaltensökonomie in die allgemeine neoklassische Theorie des universellen Gleichgewichtsmechanismus verhinderte.

Kritik an den Grundlagen des Mainstreamodells wurden schlichtweg ignoriert und man machte einfach weiter wie bisher. Das Trägheitsgesetz der Lehre verhinderte die Reform der Lehrinhalte. Die Gefahr des Einsturzes eines immer komplexeren Lehrgebäudes war einfach zu groß. Mich hat hier ein Dialog zwischen Reinhard Selten auf der einen Seite und Werner Güth an der Humboldt Universität zum Thema „Extended Bouded Rationality“  beeindruckt.

Selten agierte hier quasi als Anarchist, der sich keinerlei Zwängen hinsichtlich der Wahrung eines Lehrgebäudes unterwerfen wollte. Sein Credo war: Wenn es dem Verständnis zur Lösung eines praktisch- empirischen Problems nützt, dann scher ich mich nicht um die Verletzung  bestehender Axiome des derzeit herrschenden Lehrgebäudes. Die Gegenposition von Werner Güth war dagegen, man müsse immer bestrebt sein Neues in die Standardtheorie zu integrieren. Das Lehrgebäude muss unter allen Umständen geschützt und bewahrt werden. Man kann meist nicht beides zugleich haben. Mithin überrascht mich nicht, dass Selten den Wirtschaftsnobelpreis erhielt und Güth nicht. Es gibt eben keinen Nobelpreis für die Bewahrung bestehender Lehrgebäude, sondern dafür neue Erkenntnissen eine Bahn zu brechen.

Mithin steht die Wirtschaftswissenschaft vor der Frage wie sie einen Paradigmenwandel organisieren soll. Sie muss, um auf Dauer gesellschaftspolitische Relevanz zu erlangen, sich wieder verstärkt der Realität zuwenden, d.h. ihre empirischen Grundlagen stärken, d.h. auch praxistauglich sein.

Ohne tragfähiges empirisches Fundament und der Einsicht in die normativ-ethische Problematik der Sozialwissenschaften zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntisobjekt, dass hier insbesondere untrennbar miteinander verwoben sind, wird das Forschungsprogramm letztendlich scheitern. Was die moderne Quantenphysik auf der Grundlage der Heisenbergschen Unschärferelation längst begriffen hat, dass Beobachtungsobjekt und Beobachter untrennbar miteinander verwoben sind, ist in den an der klassischen Physik à la Newton orientierten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht angekommen.

Die Wirtschaftswissenschaften müssen unter einem solchen Blickwinkel in noch weitaus stärkerem Maße mit Unschärfen leben. Die so hoch gelobte rigorose Exaktheit – möglichst bis in die zweite oder dritte Nachkommastelle – bleibt eine Fiktion.  Ein erster Schritt wäre die grundlegende Überprüfung der Messmethoden und Daten, die die empirischen Grundlagen aller weiteren Betrachtungen sein müssen. Wie wir derzeit schmerzvoll erkennen müssen, liegt hier vieles im Argen. Goodhart’s Law[11], d.h. die Manipulation von Wirtschaftsstatistiken im Bilanzen im Interesse der Schönfärberei, ist derzeit ein grundlegendes Problem geworden. Wenn es nicht gelingt hier die empirischen Grundlagen einer transparenten, d.h. intersubjektivüberprüfbaren empirischen Datenbasis zu schaffen, dann werden alle auf der Basis von Datengläubigkeit entwickelten mathematisch-ökonometrischen Modelle kaum tragfähig sein. Garbage-in, garbage-out ist das Ergebnis fehlerhafter Daten auf Grund fehlerhafter Messungen. Die Physiker drücken es so aus: Wer misst, misst Mist. Kein Ökonom sollte sich aufgrund der Arbeitsteilung dieser Problematik entziehen dürfen.  Es gibt also viel zu tun, packen‘s wir an.

4 Gedanken zu „Ökonomische Modelle und ökonomische Realität

  1. Hallo Georg,

    ein interessanter Post, zu dem ich vor kurzem ebenfalls einen Post geschrieben habe. Falls es Dich interessiert:

    Homo Oeconomicus – Mißverständnisse der Erklärbären

    Ja, Project Syndicate oder auch INET ist zu einer Spielwiese verkommen auf der nur noch abgelatschte Vorstellungen wie Sauerbier angeboten werden. Nicht mehr interessant. Was hältst Du eigentlich von dem Minsky-Projekt von Steve Keen? Ich habe ein bißchen den Eindruck, daß der sich auch verrannt hat.

    Viele Grüße

  2. Pingback: Black Swan und die Crux mit statistischen Modellen | My Blog

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